Kladde
 
Mittwoch, 1. Juni 2005

Hier saßen nun auch Neries und Reiser oft Stunden lang und lasen sich aus irgendeinem Dichter wechselsweise vor; welches die meiste Zeit eine wahre Mühe und Arbeit und ein peinlicher Zustand für sie war, den sie sich aber einander nicht gestanden, um nur am Ende die Idee mit sich zu nehmen: ›Wir haben am Steigerwalde freundschaftlich beieinander gesessen, haben von da in das anmutsvolle Tal hinuntergeblickt und dabei unsern Geist mit einem schönen Werke der Dichtkunst genährt.‹

Wenn man erwägt, wie viele kleine Umstände sich ereignen müssen, um das Stillsitzen und Lesen unter freiem Himmel angenehm zu machen, so kann man sich denken, mit wie vielen kleinen Unannehmlichkeiten Neries und Reiser bei diesen empfindsamen Szenen kämpfen mußten: wie oft der Boden feucht war, die Ameisen an die Beine krochen, der Wind das Blatt verschlug usw.

Neries fand nun einen vorzüglichen Gefallen daran, Klopstocks Messiade Reisern ganz vorzulesen; bei der entsetzlichen Langenweile nun, die diese Lektüre beiden verursachte und die sie sich doch einander und jeder sich selber kaum zu gestehen wagten, hatte Neries doch noch den Vorteil des lauten Lesens, womit ihm die Zeit verging: Reiser aber war verdammt, zu hören und über das Gehörte entzückt zu sein, welches ihm mit die traurigsten Stunden in seinem Leben gemacht hat, deren er sich zu erinnern weiß, und welche ihn am meisten zurückschrecken würden, seinen Lebenslauf noch einmal von vorn wieder durchzugehen.
Karl Philipp Moritz - Anton Reiser

 
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