Kladde
 
Freitag, 14. Juni 2002
Transit

Ich möchte gerne einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende. Wenn ich mich nur nicht fürchten müßte, den andern zu langweilen. Haben Sie sie nicht gründlich satt, diese aufregenden Berichte? Sind Sie ihrer nicht vollständig überdrüssig, dieser spannenden Erzählungen von knapp überstandener Todesgefahr, von atemloser Flucht? Ich für mein Teil habe sie alle gründlich satt. Wenn mich heute noch etwas erregt, dann vielleicht der Bericht eines Eisendrehers, wieviel Meter Draht er schon in seinem langen Leben gedreht hat, mit welchen Werkzeugen, oder das runde Licht, an dem ein paar Kinder Schulaufgaben machen.

Da will einer nicht mit. Da stemmt sich einer gegen diese ganzen Flüchtlingsscharen, die am Rande des Meeres warten, um alle Papiere zusammen zu bekommen, um diesem Europa in Nazihänden endlich entfliehen zu können.
Was machen alle die Menschen da drüben, falls sie doch noch ankamen? Ein neues Leben beginnen? Berufe ergreifen? Komitees einrennen? Den Urwald roden? Ja, wenn es sie wirklich da drüben gäbe, die vollkommene Wildnis, die alle und alles verjüngt, dann könnte ich es fast bereuen, nicht mitgefahren zu sein.

Da will einer nur bleiben und sitzt dem Leser in Marseilles Hafen gegenüber bei Pizza und Rosé.
Geben Sie acht mit dem Rosé! Er trinkt sich, wie er aussieht: wie Himbeersaft. Sie werden unglaublich heiter. Wie leicht ist alles zu tragen. Wie leicht alles auszusprechen. Und dann, wenn Sie aufstehn, zittern Ihnen die Knie. Und Schwermut, ewige Schwermut befällt sie - bis zum nächsten Rosé.

Der erzählt nun seine aberwitzige Geschichte, wie er alles tun mußte, um abzureisen, nur um bleiben zu können.

 
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